Donnerstag, 28. Mai 2009

Gertrud

Das ist ja ein Theatertext, oder ich lese ihn so, genau so monumental, (so brachial?, raumgreifend - aber der Raum ist eigentlich immer eine Bühne) wie Schleefs Theater eben war. Es bringt ja nichts, Gertruds Monolog mit Adjektiven zu belegen, das wird schnell superlativisch und passt dann wieder nicht.

Das mit dem konzentriert lesen: ja, immer wieder verliere ich mich im Text - genau so, wie man sich auch manchmal im Theater verliert und dann schreckt man hoch, schaut nun mit wacheren Augen auf die Schauspieler und fragt sich: hey, was geschieht denn da gerade, was machen die, worüber reden die bloß? Bei der Lektüre kann ich nun zum Absatzanfang zurückkehren, erneut lesen, aber oft gelingt es mir selbst beim dritten oder gar vierten Male nicht rauszubekommen, was da gerade erzählt wird; ich verstehe es nicht (oder falsch oder was auch immer); da hilft dann nur dem Fluss zu folgen und den Punkt zu finden, wo man wieder Grund erkennt.

Manchmal möchte ich laut lesen: der Text rhythmisiert sich zu einer Schleefschen Choreographie und ich bin wieder im Theater, denke, so müsste man das auf die Bühne bringen, chorisch, Gertrud mit Männern besetzen, den Text brechen mit den Söhnen, den Brüdern, den Liebhabern (die sich in der Adaption von dem Monströsen befreien versuchen - war das Schleefs eigene Absicht beim Schreiben?): im Netz findet man Bilder von Edith Clever




als Gertrud in einer Syberberg-Inszenierung (die ich nicht gesehen habe), und das kann ich mir auch sehr gut vorstellen - Gertrud als Lottes große Schwester.

Viel Gewalt, und meist geht die Gewalt von den Frauen aus, von der dominierenden Großmutter, die die Enkelkinder straft und schlägt und prügelt, ohne dass ihr einer der Männer (Großvater oder Gertruds Vater) oder die Mutter Einhalt gebieten können, oder auch von der Schwiegertochter, die Gertrud unter Schlägen aus dem Haus vertreibt.

Und dann diese eigentlich unerträgliche Einsamkeit, der sich Gertrud hingibt oder hingeben muss: wenn sie schlaflos durch das Haus schleicht, beobachtet, horcht, nach draußen und in sich hinein, und das fällt alles irgendwie zusammen, wenn sie ihren alternden Körper beschreibt, Haut und Fleisch, ihr blutig Kratzen, die Ausflüsse und all das, wenn sie fast irr durch das Land am Fuße des Kyffhäusers geistert, panisch darauf bedacht, niemandem zu begegnen, wenn sie (über viele Seiten hinweg) in einem Bus sitzt, der sie - an einem schneeigen Silvesterabend, sie aber meint, es sei erst der 30. Dezember - zu einer Freundin bringen soll.

Ein großes, großes Buch! Mein Wunsch aber: nun die Tagebücher Schleefs dagegen zu lesen.

Als Schleef starb, war ich in Harburg, in den vielleicht trübsten Jahren meines Lebens. Ich erfuhr von Schleefs Tod seltsamerweise durch eine Leuchtschrift an einem Kiosk in dem Einkaufszentrum nahe des Harburger Bahnhofs, in dem sich auch der MiniMal befindet, der damals öfters von der schon dementen Inge Meysel - von einem sich kümmernden Nachbarn begleitet - besucht worden ist. Die Hamburger Presse (Hamburg hat von allen deutschen Großstädten die schlechtesten Zeitungen) berichtete gerne darüber. An diesem Nachmittag traf ich Inge Meysel nicht, ich hatte sie eigentlich nie getroffen. Ich erfuhr dort - in der Hand eine Papiertüte mit Dosensuppen und anderem Billigzeug - beim Vorübergehen von Schleefs Tod und war erst ehrlich betroffen und dann verwundert: wen interessiert das hier, wer kennt hier Einar Schleef?

Schleef starb in einem Berliner Krankenhaus und ich las später, dass man im Krankenhaus nach seinem Tod nicht wusste, wen man verständigen sollte. Schließlich (hatte es Tage gedauert?) fand man seinen Anwalt.

Die erste Theaterarbeit, die ich von Schleef sah, war "Vor Sonnenaufgang". Die Inszenierung war zum Theatertreffen eingeladen worden, aber an diesem Sonntag-Nachmittag war der Hauptdarsteller (Volker Sprengler) erkrankt; Schleef wollte die Vorstellung unbedingt geben und sprang mit dem Textbuch in der Hand selbst ein. Die Besucher verließen reihenweise das Theater. Irgendwann der ja schon im Vorfeld angekündigte Skandal: über 30, 40 Minuten blieb die Bühne stockdunkel (Vor Sonnenaufgang!), nur Taschenlampenlichter zu sehen, weiteres Türenschlagen im Parkett, der ausharrende Rest aber war am Ende begeistert.

Später dann: Wessis in Weimar, das ist ja alles bekannt, super. Brechts Puntila ... wieder mit Schleef; die Schauspieler, alle nackt, liegen über- und ineinander verkuschelt am Bühnenrand, inmitten von ihnen (nicht nackt, sondern mit einem (Sauna-?)Tuch umwickelt, die tolle Jutta Hoffmann), Schleef neben dem Knäuel, schaut über das Publikum hinweg (oder doch direkt ins Publikum hinein?) in eine imaginierte Ferne und ruft: "Wollt ihr Ficken?"

Zuvor die Trauerarbeit in einer Novembernacht bei Schließung des Schillertheaters mit den Resten seines nicht gezeigten Fausts (später prozessiert Schleef gegen die Stadt), schließlich sein Triumph: Jelineks Sportstück, über 40 Minuten Ovationen bei der Uraufführung am Burgtheater ... ich kann das hier kaum Schreiben ohne dass ich schrecklich sentimental werde.

Schade, zu schade, dass er nicht mehr ist.

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